Über dieses Corexit findet man derzeit regelrecht alptraumhafte Informationen. Eine der übelsten Quellen, die einem wirklich die Gänsehaut aufziehen kann:
http://www.contracoma.com/russische-wissenschaftler-warnen-usa-vor-toxischem-corexit-regen/
Das Video dazu ist allerdings nicht zweifelsfrei, der konkrete Zusammenhang mit eventuellem Corexit-Fallout erscheint mehr spekulativ, aber auch nicht völlig absurd.
Betrachtet man die Angaben über die Zusammensetzung von Corexit - wie sie der Hersteller Nalco veröffentlicht hat - kann man ein paar Kleinigkiten ableiten daraus:
Durch den hohen Tensid-Anteil wirkt das Mittel vorwiegend ähnlich wie Waschpulver oder Spülmittel, indem es die Durchmischbarkeit von Öl und Wasser durch Reduktion der Oberflächenspannung verbessert. Eine gewisse Annäherung der Dichtewerte ist dieser Kombination auch zuzutrauen. Daraus ergibt sich eigentlich keine wirkliche, chemische Zersetzungswirkung (was bei der immensen Komplexität der chemischen Zusammensetzung von Rohöl ohnehin schwer hinzukriegen sein dürfte), sondern eher nur eine Zerstreuung und Auffächerung in kleinste Tröpfchen, die nicht mehr rasch an die Oberfläche steigen können. Diese Massnahme ist also überwiegend eher kosmetischer Natur, weil eben auf dem Wasser deutlich geringere Ölmengen als Teppich ankommen. Eine gewisse praktische Komponente hat das aber auch. Diese Feinverteilung des Öls vergrößert seine angreifbare Oberfläche extrem. Das macht Mikroben den Zugriff darauf leichter, erhöht auch die Angriffsfläche für chemische Reaktionen mit Bestandteilen des Meerwassers und kann somit durchaus den Zerfallsprozess beschleunigen. Eine größere Oberfläche macht aber auch eine bessere Lösung im Wasser selbst möglich, zumindest das Herauslösen einzelner Bestandteile. Und zu einem gewissen Grad löst sich nahezu jede Substanz in Wasser, wenn auch nicht alle Komponenten gleich gut. Die Einbringung in dieser immensen Tiefe und damit unter dem hohen Druck erhöht ebenfalls die Löslichkeit, insbesondere von rasch ausgasenden Ölbestandteilen oder dem darin ebenfalls enthaltenen Erdgas. Ob das allerdings so gut ist, ist eine andere Frage. Denn durch diese Auflösung im Wasser wird auch die Diffusionsfähigkeit erhöht, also die Fähigkeit der gelösten Substanz, organische Barrieren (wie zum Beispiel die Haut von Lebewesen oder Kiemenlappen von Fischen) zu durchdringen. Daraus resultiert eine stärkere Durchdringung eines Organismus mit diesen gelösten Bestandteilen und zwar möglicherweise bis in den Blutkreislauf und damit sämtliche Organe. Das wiederum lässt die potentiellen Giftstoffe tiefer in die Nahrungskette eindringen und sich darin hartnäckiger festsetzen, als dies nur bei oberflächlicher Benetzung möglich wäre. Ebenso können sich auch in anorganischen Oberflächen - wie zum Beispiel den porösen Sand am Meeresgrund oder die Oberfläche rauen Gesteins - diese gelösten Bestandteile leichter festsetzen und länger gegen Auswaschung halten. Das Resultat insgesamt ist auf jeden Fall eine wesentlich tiefere Durchdringung der betroffenen Umwelt, als dies bei zusammenhängenden Ölschwaden der Fall wäre. Die Dauer der Kontamination erhöht sich auf diese Weise garantiert drastisch und folglich auch potentielle Langzeitwirkungen.
Was die Fähigkeit von Corexit betrifft, mit dem Wasser zu verdunsten und in die Wolkenschicht mit aufzusteigen, um dann wieder abzuregnen, kann man schon mal sicher sagen, dass nicht die gesamten Bestandteile dazu in der Lage sind. Dafür liegt deren Siedepunkt teilweise zu hoch und somit reduziert sich auch ihre Fähigkeit, bei Temperaturen unterhalb dessen durch Verdunstung in den gasförmigen Zustand überzugehen.
2-Butoxyethanol und Propylenglykol sind dazu allerdings zu einem gewissen Teil in der Lage. Oberflächennahe und somit Sonneneinstrahlung ausgesetzt werden diese Bestandteile also mit dem aufsteigenden Wasserdampf zumindest teilweise mitgetragen und können danach je nach Wetterlage weiß Gott wo wieder abregnen.
Eine vollkommen andere Geschichte, die garantiert niemand in vollem Umfang einschätzen kann - weil es einfach zu komplexe Vorgänge von sehr vielen beteiligten Corexit- und Ölbestandteilen betrifft - sind die Reaktionsprodukte. Die genauen chemischen Reaktionen, die ablaufen, wenn das Öl mit dem Corexit reagiert, sind so komplex, dass heute noch völlig unentdeckte Verbindungen dabei entstehen könnten. Und hier ist nahezu alles möglich, fürchte ich. Da Corexit bisher weder in derartigem Umfang noch durch die Ausbringung in solch immenser Tiefe zum Einsatz gekommen ist, gibt es auch keine Erfahrungswerte damit. Und die Tatsache, dass durch die Tiefenausbringung das Meer bei diesem Unfall erstmals praktisch in drei Dimensionen massiv ölverseucht wird - und nicht nur ein Oberflächenteppich entsteht - macht die Sache zu einem sehr waghalsigen Experiment mit unkalkulierbarem Ausgang. Im schlimmsten Fall kann es dazu führen, dass Pflanzen, Tiere und Meeresböden auf unabsehbare Zeit selbst noch in großer Entfernung vom Leck selbst mit schwer abbaubaren, sich hartnäckig festsetzenden Reaktionsprodukten durchdrungen werden, die zumindest in Spuren über Jahre oder Jahrzehnte hinweg die gesamte maritime Nahrungskette erreichen können. Im "worst case" ist nicht auszuschließen, dass über kurz oder lang ein großer Teil des Nordatlantiks (und vielleicht noch größere Regionen) mit fein verteilten, geringen Mengen dieser Reste durchseucht werden. Und das werden wir dann letzten Endes vom Fischstäbchen bis zur Haifischflossensuppe als weitere Komponente unserer Ernährung einkalkulieren können.
Bericht über die Fragwürdigkeit des Chemikalieneinsatzes:
http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-05/oelbekaempfung-chemikalien
Dass allein das Öl selbst schon ein erhebliches Gesundheitsrisiko mit sich bringt, weiß man im Grunde genommen auch. Spiegel online beispielsweise erwähnt in einem Rückblick auf die Exxon Valdez - Havarie in Alaska Langzeitschäden bei damals zur Aufräumung eingesetzten Arbeitern:
"Die "Exxon Valdez" hat eine unendliche Ölpest ausgelöst, und das nicht nur zum Schaden der Tierwelt: Viele der Arbeiter, die damals täglich 18 Stunden die verschmutzten Küsten mit Chemikalien säuberten, leiden bis heute an Lungenproblemen, Nervenkrankheiten, vergrößerten Lebern oder ständigem Nasenbluten."
(Quelle:
http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/3823/der_schwarze_tod_kam_am_karfreitag.html)
Auch "Die Zeit" berichtet von immer noch vorhandenen Schadstoffen in Alaska:
http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2009-09/Exxon-Valdez-Oeltanker
Im aktuellen Fall scheinen sich ebenfalls bereits erste Symptome bei Anwohnern des betroffenen Gebietes zu zeigen.
Siehe hier:
http://derstandard.at/1276043515179/Oel-im-Golf-von-Mexiko-Bereits-ueber-70-Menschen-in-Louisiana-erkrankt
Und noch etwas ausführlicher hier:
http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-06/oelpest-gesundheit-menschen
Bericht über teils genschädigende oder Hirnschäden verursachende Langzeitfolgen:
http://www.zeit.de/1993/10/Toedliches-Ol
Ein ausführlicher Artikel über die Bemühungen, betroffenen Tieren zu helfen, findet sich hier:
http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-06/oelpest-tierrettung-interview
Fotostrecke über Rettungsversuche für betroffene Wasservögel:
http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-06/fs-oelpest-louisiana-pelikane-reinigung
Fotostrecke mit Bildern der Abfackelung und der Aufräumarbeiten:
http://www.zeit.de/wissen/2010-06/fs-louisiana-1406
Artikel über die Ölschwaden in der Tiefe:
http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-05/oelschwaden-tiefsee
Alles in Summe muss man feststellen, dass es illusorisch ist, anzunehmen, es gäbe irgendeine Möglichkeit, die Folgen in absehbarer Zeit wirksam zu bekämpfen. Das Ausmaß dieser Katastrophe übersteigt unsere Fähigkeiten bei deren Begrenzung dramatisch. Wie der Wissenschaftskritiker und Philosoph Erwin Chargaff es in einem seiner Bücher auf den Punkt brachte, wir gehen mit der "Verwegenheit der Ahnungslosen" vor, wenn wir in blindem Technikvertrauen und regelrecht fatalistischer Entschlossenheit vor uns hinfuhrwerken. Anstatt sich im Vorfeld einer potentiellen technischen Machbarkeit nach Dingen wie moralischer Vertretbarkeit, möglichen Folgen von Fehlern oder auch Varianten von destruktiver oder zerstörerischer Verwendung unserer Erfindungen zu fragen, setzen wir alles, was auch nur in die Nähe der Machbarkeit rückt mit der kurzsichtigen und hirnamputierten Euphorie von Kleinkindern in die Tat um.
Ich weiß nicht, wie es Euch mit diesen Ereignissen so geht, aber ich finde mich jeden Tag wieder beim Lesen solcher Artikel und dem Betrachten solcher Bilder in einer hilflosen Wut, einer tiefen Traurigkeit und einer unsagbaren Enttäuschung wieder. In Tagen wie diesen muss ich ehrlich gestehen: ich schäme mich dafür, ein Mensch zu sein, dieser kollektiv wahnsinnig gewordenen Spezies anzugehören. Denn dass wir keine "Krone der Schöpfung" darstellen, sondern eher den Bodensatz der Evolution, beweisen wir gerade wieder einmal nachdrücklich...
http://www.zeit.de/2010/20/Oelkatastrophe-USA