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Ähnlich wie die Theorie des holographischen Universums hat auch die uralte Maya-Philosophie einen realitätsverändernden Blickwinkel: Die Überzeugung der indischen Philosophen, dass das, was wir sehen, nicht die wirkliche Welt ist, und dass wir ständig getäuscht werden, hat dazu geführt, Maya als lächelnde, verführerische, launenhafte, verräterische Göttin zu sehen, als Göttin dessen, was von westlichen Wissenschaftlern als physische Wirklichkeit bezeichnet wird.
Bei den Griechen entspricht sie Cybele, die auch als Maia bekannt ist. Ursprünglich war Maya die Bezeichnung für ‚physische Erscheinung, irdische Form’, ‚trügerisches Äußeres’. Für die indischen Philosophen und auch für die Platoniker war die wirkliche Welt die Existenz geistiger Begriffe, Platons unveränderliche Idee.
Die veränderliche physische Welt ist nicht real, sondern gleich ‚Schatten eines fernen Feuers’, wie Platon es im Höhlengleichnis beschrieb. Maya kommt dicht an den Sufi-Begriff Ghurur, also ‚Täuschung, Illusion’ heran, dem Gegenteil von Haq, ‚Wahrheit, Gott’. Vishnu ‚nahm’ in seinen Inkarnationen einen Körper ‚an’, als wäre der ein Gewand, das seinen unsichtbaren göttlichen Geist umhüllt.
Mit ihrem stärkeren Willen können die Götter die Sterblichen das sehen lassen, was sie sehen sollen. Die Fata Morgana in der Wüste ist nur ein schwaches Abbild der Märchen, welche die indischen Götter ganze Nationen durchleben lassen können. Die Weisen sind die einzigen Menschen, denen es nach vielen Jahren Askese geglückt ist, den Zauber dieser göttlichen Illusionen zu brechen.
Sie erkennen, dass all das, was für einen Durchschnittsmenschen etwas Gewohntes darstellt, eine Illusion ist – beispielsweise ein Körper, denn er wird am nächsten Tag verfallen. Nur das Ewige ist wahr, und das Ewige ist einzigartig. Die Menschen, die wir um uns herum sehen sind nichts weiter als vielfältig vorhandene illusorische Visionen, Emanzipationen der einzigen Einheit: der Menschheit, des menschlichen Geistes, des Wesens des Menschseins.
Körper werden kommen und gehen, aber der Geist, die Essenz, Sat, wird noch lange fortbestehen, auch wenn alle Körper schon längst verschwunden sind und nur Brahma unsichtbar überlebt hat. Ein Weiser hatte einst so viel Askese geübt, dass ihm der Gott Vishnu erschien und eine Gunst gewährte.
‚Lehre mich, großer Gott, deine Maya!’ bat der Weise. ‚Gut’ erwiderte Vishnu. ‚Spring in den Fluss!’ Der Weise gehorchte. Er tauchte hinunter bis zum Grund des Flusses, wo er ein Mädchen wurde, eine Prinzessin, die in einem Palast innerhalb eines schönen Parks aufwuchs. Als sie volljährig war, wurde sie mit einem stattlichen Prinzen verheiratet und lebte viele Jahre glücklich mit ihm zusammen, bis ein Feind in das Land einfiel.
Ihr Vater, der König, ihre Brüder und ihr Gatte mussten in den Krieg ziehen, um das Königreich zu verteidigen. Ihr Gatte wurde in der Schlacht getötet, und sein Leichnam wurde nach hause gebracht, um dort verbrannt zu werden.
Die Prinzessin, als treue Gemahlin, willigte in den Witwentod ein und wurde mit ihrem Gatten bei lebendigem Leib verbrannt. Während sie verbrannte, ging ihr Körper als Rauch nach oben, und ihre Seele folgte ihr. Immer höher stieg sie hinauf, bis sie an die Oberfläche des Flusses gelangte und wieder ein Mann, der Weise von damals, wurde. Vishnu war noch immer da. Er fragte: ‚Kennst Du jetzt meine Maya’?